Eine Situation, wie sie jeder kennt: Eine Fahrradfahrerin bremst abrupt und vermeidet gerade noch den Zusammenstoß mit einem abbiegenden LKW. Ein Moment, der in keiner Statistik erfasst wird – und dennoch wichtige Hinweise auf eine potenzielle Gefahrenstelle liefert.
Beinaheunfälle – also Situationen, bei denen es beinahe zu einem Unfall gekommen wäre, dieser aber durch Ausweichen oder Bremsen verhindert werden konnte – sind wertvolle Frühindikatoren für potenzielle Gefahrenstellen. Diese Ereignisse bieten wertvolle Einblicke in das Verkehrsgeschehen, da sie in der Regel auf problematische Verkehrsverhältnisse oder menschliches Fehlverhalten hinweisen, bevor es zu einem tatsächlichen Unfall kommt. Grundlage für die systematische Erfassung und Auswertung von Beinaheunfällen ist die Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Unfall- bzw. Sicherheitspyramide.
Die Unfall- bzw. Sicherheitspyramide: Eine zentrale Theorie zur Unfallprävention
Der Pionier auf dem Gebiet der industriellen Arbeitssicherheit, Herbert William Heinrich, stellte in seiner Analyse von 550.000 Unfällen im Jahr 1931 fest, dass auf jeden schweren Arbeitsunfall am Arbeitsplatz 29 Unfälle mit leichteren Verletzungen und 300 Unfälle ohne Verletzungen vorangehen. Daraus formulierte Heinrichs seine zentrale Annahme, dass Unfälle nicht isoliert, sondern als eine Kette vorangegangener Ereignisse und Ursachen zu betrachten sind. Diese Erkenntnis führte zur Entwicklung der so genannten Unfall- oder Sicherheitspyramide, die die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Faktoren und deren Auswirkungen veranschaulicht.

Unfall- bzw. Sicherheitspyramide nach H. W. Heinrich, 1931
Beinaheunfälle sind demnach Ereignisse, bei denen es zwar nicht zu Personenschäden gekommen ist, bei denen aber unsichere Zustände oder Verhaltensweisen vorgelegen haben. Aus der Analyse von Beinaheunfällen können somit Präventionsmaßnahmen abgeleitet werden, die sich positiv auf die Vermeidung von schweren und tödlichen Unfällen auswirken.
Mehrwert der Analyse von Beinaheunfällen gegenüber der klassischen Unfallanalyse
Die Untersuchung von Beinaheunfällen bietet einen entscheidenden Mehrwert gegenüber der traditionellen Analyse von tatsächlichen Unfällen. Ein zentraler Vorteil von Beinaheunfällen ist, dass sie auf potenzielle Gefahrenquellen aufmerksam machen, noch bevor es zu einem tatsächlichen Unfall kommt. Traditionelle Unfallanalysen konzentrieren sich auf bereits eingetretene, oft schwere Ereignisse. Ein weiterer Vorteil der Analyse von Beinaheunfällen ist die Anwendung des zugrunde liegenden Prinzips der Unfall- bzw. Sicherheitspyramide. Diese besagt, dass Beinaheunfälle in der Regel häufiger auftreten als tatsächliche Unfälle. Die daraus resultierende Möglichkeit der Risikoabschätzung erlaubt die Identifikation von Gefahrenquellen, die in der offiziellen Unfallstatistik nicht erfasst werden. Einen besonderen Mehrwert gegenüber der klassischen Unfallanalyse bieten darüber hinaus die Detailinformationen, die aus der videobasierten Analyse von Beinaheunfällen gewonnen werden können:
- Verkehrsbedingungen: Welche äußeren Umstände haben zum Beinaheunfall geführt? Hier spielen Faktoren wie Verkehrszusammensetzung, Verkehrsdichte, Witterungs- und Lichtverhältnisse eine Rolle. Beispielsweise können Radfahrende bei Regen oder in der Dämmerung schwer zu erkennen sein.
- Ereignisdetails: Was genau ist während des Beinaheunfalls passiert? Gab es plötzlich auftauchende Hindernisse wie andere Fahrzeuge, Fußgänger oder Radfahrer? Wurde der Fahrer durch ein anderes Fahrzeug abgelenkt oder gab es eine unerwartete Änderung im Verkehrsfluss?
- Reaktionen des Fahrers: Wie hat der Fahrer auf die Gefahrensituation reagiert? Bremsen, Ausweichen oder andere Reaktionen können Hinweise darauf geben, wie schwere Unfälle vermieden werden konnten und welche Verhaltensweisen besonders riskant sind.
- Infrastrukturelle Bedingungen: Welche infrastrukturellen Faktoren begünstigen die Gefahrensituation? Hier spielen Umstände wie Sichtverhältnisse, Übersichtlichkeit der Verkehrsführung oder unzureichende Verkehrssicherung eine Rolle.
Fazit: Prävention durch frühe Erkenntnisse
Die Untersuchung von Beinaheunfällen stellt einen wichtigen Schritt in der Weiterentwicklung der Verkehrssicherheit und damit der Erreichbarkeit der Vision Zero dar. Indem diese „Vorwarnzeichen“ systematisch erfasst und analysiert werden, können Maßnahmen zur Unfallvermeidung und Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur ergriffen werden, bevor ein schwerwiegender Vorfall eintritt. Dies ermöglicht es nicht nur, die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer zu erhöhen, sondern auch potenzielle Gefahrenstellen frühzeitig zu beheben und damit die Anzahl tatsächlicher Unfälle langfristig zu senken.Sie haben Rückfragen, oder wollen einen tieferen Einblick in die Methode?
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Quellen:
H. W. Heinrich: Industrial accident prevention: a scientific approach. McGraw-Hill, 1931.